Souvenirs
Jean-Claude Zehnder

Diese Zeilen schreibe ich in Frankreich. Wie viele Erinnerungen verbinden mich über einen Vater mit diesem Land! Im Jahr 1924 stieg Rudolf Zender an der Gare de l’Est aus dem Zug mit der grossen Dampflokomotive und wusste, dass Paris seine Stadt, dass das Licht der Ile de France das ideale Licht für seine Malerei sei. Mit etwa 10 Jahren besuchte ich meinen Vater erstmals in seinem kleinen Appartement bei der Porte d’Orleans (Kindermund: «Du wohnst aber sehr einfach hier»). Später führte er mich – wie viele Besucher aus der Schweiz – durch den Louvre und lehrte mich, die Bilder mit seinen Augen zu betrachten. Seine Lieblingsplätze rund um Notre-Dame und St-Julien-le-Pauvre sind noch heute Spaziergänge, die ich gerne wieder erlebe.

Für seine Malerei wünschte RZ Ruhe und Konzentration. Er nahm am Morgen den Malkasten und eine Leinwand unter den Arm, bestieg die Metro und suchte seinen Arbeitsplatz an der Seine oder anderswo auf. Zu Mittag gab es ein Beefsteak im einfachen Bistro (Kommentar: «Mon vieux, ne me tombe pas dans le Picassisme!») und am Nachmittag ging die Arbeit weiter. Auch die Abende brachten ausser französischer Literatur oder Philosophie keine Zerstreuung. Ohne Telefon und TV war es ihm am wohlsten (das französische Steueramt lohnte ihm dies durch Einweisung in die unterste Steuerklasse). Durch die regelmässige Lektüre in «Le Monde» war er aber stets aufs beste informiert über das aktuelle Zeitgeschehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich RZ das Malerleben so eingerichtet, dass er in Paris, oder gelegentlich in Italien, ausschliesslich seiner Arbeit leben konnte; in der Schweiz wurden dann Ausstellungen organisiert, Sammler besucht und Aufträge im Lithographen-Atelier Wolfsberg in Zürich ausgeführt («Quand je quitte la Suisse avec ses mille obligations je quitte le temps mesuré et vis en «dehors», tout content de ne connaître qu’une seule chose: la peinture»). 1974 war nach seiner eigenen Aussage ein besonders produktives Jahr; grosse Formate mit dem Blick über die Dächer von Paris entstanden. Ein Mann von 73 Jahren, immer wieder von Rückenleiden geplagt, lebte ganz seinen malerischen Visionen. Im Jahr 1980 wurde ihm sein geliebtes Atelier-Appartement an der Rue Beaunier gekündigt; auch schaffte er die sechs Stockwerke in dem alten Haus ohne Lift kaum mehr. Die Rückkehr in die Schweiz fiel ihm schwer. Trotzdem entstanden an guten Tagen Leinwände mit dem hellen Grün der Zürcher Landschaft oder Aquarelle im winterlichen Ascona.

Zu meinen frühesten Erinnerungen gehören Szenen beim Sonntag-Mittag-Kaffee, bei dem zur Freude des Knaben der Rauch der Gauloise bleue in kleinen Ringlein zur Stubendecke emporschwebte. In den Notizen zu frühen Bildern aus der Banlieue de Paris finden sich Begegnungen mit Blaise Cendrars. Dieser warnte ihn davor, Zigeunerinnen in den einfachen Hütten zu porträtieren, das sei viel zu gefährlich. Der Weg von der künstlerischen Aufbruchstimmung um 1930 über die Fragen der Abstraktion nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den grossen Leinwänden von 1974 spiegelt nicht nur ein Stück Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, sondern kann auch als eindrückliches Bild der «condition humaine» gesehen werden.